Lounge

„Ursprünglich gab es in dieser Lounge einmal eine Supervisorin namens Hildegard, ehemalige Flugbegleiterin und Fossil aus den farbfreudigen 70er Jahren, die sich zum Bodenpersonal hinübergerettet hatte. Sie kontrollierte den Einlass. Da ihre als menschlich empfundenen Einlasskriterien ästhetisch oder ideell nicht immer nachzuvollziehen waren, musste das Konzept geändert werden. Hildegard ist jetzt im Ruhestand. 

Die Lounge ist eine Portrait-Galerie. Die hier gezeigten Einzelarbeiten entstanden und entstehen aus Fotografien, die mit verschiedenen analogen und digitalen Kameras oder als Screenshots aufgenommen wurden und durch Mehrfachbelichtungen geschichtet bzw. angereichert werden. Ich arbeite nur solche Bilder in diese Digitaltextur ein, die thematisch oder als Motiv zur Idee des Gesamtbildes passen. 

Jedes einzelne Bild hatte einen dokumentarischen Anlass im Sinne eines festgehaltenen Zipfels Zeit. Alle zusammen stehen nun für etwas, dass es so nicht gab.“


Till Heene, Dezember 2025




Analoger Ausläufer 2, oder: Witwe Ihringer und der sterbende Gadaffi

"Bleibt als überschaubares Universum: der Garten und das Haus, das Wohnzimmer und der Fernseher. Letzterer bringt die Welt hinein. Wenn es reicht und selbst die Schlaflosigkeit sich nicht mehr auf den Beinen halten kann, schaltet man beide aus oder schläft darüber ein.

Verbindendes Element ist ein Farbstich wie aus analogem Sepia. Wahrscheinlich handelt es sich um das Bild jenes Himmels vom März 2022, der von Wüstensand aus der Sahara von Süd- bis Mitteleuropa eingefärbt war."




Analoger Ausläufer 1, oder: Der Prophet in der Leihbibliothek

"Es ist eine häufige Klage älterer Menschen, für ihre Umwelt unsichtbar zu werden. Viele treten die Flucht nach vorne an und verstecken sich.
Dieser alte Mann ging stattdessen in die öffentliche Bibliothek einer spanischen Kleinstadt. (Überhaupt: das Leihbibliothekspublikum!) 
Außerdem sparte er so Heizkosten. Er lieh sich meinen Stift und kritzelte erläuternd seine erhöhte Nebenkostenabrechnung auf die Tageszeitung. Dann verfluchte er die Regierung, um es höflich zu sagen. 
Do not go gentle into that good night.
"




Junger Mann in Flusslandschaft


May you never know hunger
May you always quench your thirst
May you sleep when you're tired
And then wake up with the birds
And the things that make you happy
Will bring you sadness
Bring you heartache
How will we learn from our mistakes
If we never let them show?
And we'll follow the river
Until our days are through
And they'll never ever
Take your dreams away from you

Travis, The River, 2024


"Es ist leicht, zu kopieren und zu zitieren. Dass das Leben ein Fluss sei, darüber haben schon viele Philosophen philosophiert, Dichter gedichtet oder Barden gesungen. So häufig, dass die Metapher inzwischen ziemlich den Bach runtergeht.
Dieser Traum kann auch ein Traum vom Aufwachen sein. Die Augen zu öffnen und zu sehen. Zu erkennen, dass man keine Ahnung hat, aber sehen kann. 
Wenn Träumen damit verbunden ist, zu (ver)schlafen, möchte ich lieber wach bleiben." 




Schutz

"So nah wie es geht. Danke euch beiden."




Terminale Kalypso

"Sitzt da im Ankunftsberartet und wartet so lange.
Delayed steht hinter Flugnummer und Ankunftszeit.

Zeit, um klarzustellen, dass sich ein paar Dinge geändert haben. Erstens: Odysseus irrt nicht mehr umher. Er fliegt Linie, ist Pilot bei einer Linienfluggesellschaft. Zweitens: seine Verwirrung entsteht allenfalls aus Verspätung. Ansonsten ist er klar im Kopf. Verantwortung über dreihundert Seelen und mehr, Autopilot hin, Autopliot her. Drittens: wäre er pünktlich gewesen, hätte sie ihn gelockt, aber alles verhältnismäßig. Kleidchen, Sommerparfum, etwas aufgehübscht. Es gibt Gerüchte, dass die Fluggesellschaft die Strecke einstellen will. Würde Odysseus auch noch rein privat auf diese Insel kommen? Zeus: die moderne Netzplanung einer Fluggesellschaft?
Was ist das alles profan geworden. Die Spannung ist raus, wenn der Mythos auf Technik trifft. Homo Faber. 

Breites Warten auf Neuigkeiten über das PA-System des Flughafens oder das Smartphone, doch Odysseus bleibt im Flugmodus. 
Kalypso schaut und beobachtet den Ankunftsbereich. Worüber sie nachdenkt, ist spekulativ und allenfalls eine Projektion."




Fernando Pessoa (für einen Moment ohne Heteronyme)

"Ein Fotograf hat in den späten (?) 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Fernando Pessoa vor einem Lissabonner Modehaus erwischt, ein Heft (oder Buch?) in der Hand. Es gibt ein knappes Dutzend historischer Fotos, darunter offizielle aus einem zeitgenössischen Fotostudio und ein wunderbar stilisiertes  Portrait Genre sensibler Poet. Die anderen sind kontrastarme Bilder unbekannter Fotografen.

Es gibt keine Aufnahmen von Pessoas Heteronymen Alberto Caeiro, Álvaro de Campos, Ricardo Reis, Bernardo Soares und der anderen. Das wirft die Frage auf, ob es sie tatsächlich gegeben hat. Hierzu wird ein Symposium veranstaltet, auf dem viele Kluge Dinge gesagt werden, ohne dass das eigentliche Problem gelöst werden kann.

Fernando Pessoa war im deutschsprachigen Sprachraum lange Zeit unbekannt. Erst in den 80er und 90er Jahren wurden seine Werke (oder die seiner Heteronyme?) übersetzt. Er galt als Geheimtipp für Identitätssuchende. 
Wie enttäuscht war ich, als ich mit Interrail zum ersten Mal nach Portugal kam. Fernando Pessoa zierte die 100 Escudos Münzen und Scheine. So wurde dieser Geist nicht von seinen Heteronymen, sondern vom Schotter ausgeschüttet. Erst mit der Einführung des Euro war der Spuk zuende."