Transit: Lounge

In der Lounge stößt man auf eine Reihe zeitgenössischer und nicht so zeitgenössischer Artgenossen. Der Transit und unser Interesse an ihnen bringt sie zusammen.
Noch sind es nicht viele. Lounge-Supervisorin Hildegard wacht über den Zutritt.
Wir müssen etwas weiter ausholen.

Hildegard ist ein Relikt aus der Zeit, da eine Flugreise teuer war. Manche nahmen sie zum Anlass, um über die Flugreise selbst nachzudenken (wir empfehlen hier einen Text des Schweizer Schriftstellers Max Frisch: Der menschliche Maßstab. - Nach einem Flug aus dem Tagebuch 1946-1949).
Ach ja. Passagiere putzten sich heraus. Es gab kein Bordunterhaltungsprogramm. Die Flugreise selbst war unterhaltsam genug. Man konnte die Beine ausstrecken oder ins Cockpit schauen. Es war laut in der Kabine.
Lässt es sich überhaupt irgendwie erfassen, was es bedeutet, in der Troposphäre nur von einer dünnen Aluminiumhaut geschützt und auf 875 km/h beschleunigt Champagner zu trinken?

"In meinem ersten Leben war ich Stewardess", sagt Hildegard. Gierig bereiste sie die Welt. Ein leichtes, flatterhaftes Herzchen, das noch am Ankunftsort noch so frisch aussah wie am Abflugsort, jedem Jetlag zum Trotz. Ein flinker Fuß auf dem Disco Dancefloor des Jetsets. Neulich in Rio, in New York, in Tokio: wie das klingen musste für die Daheimgebliebenen in Butzbach, Schweinsberg oder Stadt Allendorf.
Aber wollte sie gestern nicht noch, ihrem Sinn für Gerechtigkeit folgend, Jura studieren und mindestens Diplomatin bei der UNO in New York werden? Nur ein Jahr noch!
Die Zeit flog mit. Schneller.

Heute jedenfalls…sitzt Hildegard hier. Die Fluggesellschaft hat sie aus der Kabine geschleust und am Eingang dieses Limbus’ abgesetzt.
"Wie wiederaufbereitete Kabinenluft!", wie es taktlos Hildegards Vorgesetzter nannte, ein wurstiger Typ, der zu seiner Vermenschlichung ansonsten Metaphern aus der Sprache des Fußballs wählt. Den Ball mal schön flach halten und so.
Hauptsache, noch irgendwas mit Fliegen, dachte Hildegard. Wer, wenn nicht sie versteht sich besser darauf, anderen vorzuschreiben, wie man sich anständig anzieht? Hier ist sie in ihrem Element. Einlass bekommt, wer Einlass verdient.
Rebellin, die sie auch ist oder noch immer zu sein behauptet, lässt sie gelegentlich übermüdete Flughafen-Schichtarbeiter in die Lounge. Hildegard hat ein großes Menschenherz nach vielen Enttäuschungen. Sie ist wie eine dieser Schnapspralinen, die sie früher so gerne aß: außen aus härterer glasierter Schokolade, aber innen immer noch mit viel Umdrehung. Inzwischen schenkt sie sich meistens die Schokolade.

Die Einlasskriterien unseres Managements sind nicht Hildegards Einlasskriterien. Oft gibt es Streit. Bisher fanden nur wenige Gäste Zutritt zur Lounge. Weitere sind angekündigt. Sie werden hart verhandelt werden müssen.
Während diese Lounge-Gäste auf den Abflug warten, rattern draußen Trolley-Rädchen über die Fugen des Marmorbodens. Hildegard hat große Ohren. Nichts, das ihr entgeht. So steckt sie uns die eine oder andere Geschichte.
„Stößchen!“, ruft sie. Am Boden gibt's Winzersekt.


Portraits

Berliner Zugezogener um Zweitausendzwanzig

Entgegen eindeutiger Anweisungen des Managements versucht Hildegard ihn die Lounge zu lassen (wie immer: großes, verstandentkoppeltes Herz, ein paar Umdrehungen zu Schichtbeginn, dazu der Geruch von Pfefferminzschokoladenplättchen; etwas Schokoladenbraun mischt sich auf ihrem linken Schneidezahn mit den karminrot schreienden Abriebpartikeln des Lippenstifts). Alldieweil campiert der Berliner Zugezogene vor dem Loungeeingang. 

Oder er bettet sich auf die Jeansjacke in eine Wiese nahe des Flughafens Tempelhof, die ein Fluss von geträumten Erinnerungen dunkel durchläuft. Er ist so müde, dass er vergisst, die Brille abzunehmen.
Sieht er so noch im Traum schärfer?

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Herbstbäume leuchten um die Wette. Es ist mild; man könnte glauben, der Sommer habe sich auf dem Weg in die südliche Hemisphäre verfahren und vorübergehend kehrt gemacht. Möge er seinen Weg aus Berlin nicht mehr herausfinden! Bald, gleich! wird es kalt, lange kalt in diesem Berlin.

(Sowieso: zu viel Berlin! Noch immer ist hier immer irgendwo irgendetwas los! Wie viel hat der Zugezogene schon verpasst, allein durch den Entschluss, das eine zu machen, was bedeutet, das andere nicht zu machen. Inzwischen meldet sich der Körper mit voranschreitenden Ächz- und Knacklauten. Sie treten in diesem zweiten Akt wie Figuren auf, deren Rolle man am liebsten aus einem Stück streichen würde, das ohne sie kein schlüssiges Ende findet.)

Träumt er sich selbst als Dichter im Unterhemd, als einen Post-post-marxistischen-nennt´s-wir-ihr-wollt-Kämpfer? Dieses Unterhemd ist Programm, intertextile Anspielung auf die drei Semester Soziologie, damals, Anfang der 90er. Im Rahmen eines Proseminars nahm er an einer Exkursion, einer Feldstudie in…war’s Marzahn? oder Neukölln? teil.
Damals wie heute trugen die meisten männlichen Befragten Unterhemden. Verlierer, Abgehängte, Minimalkonsumenten. Sie öffneten die Türen dunkler, unbelüfteter Wohnungen und schlugen sie ihm vor der Nase wieder zu als er, von einem Fuß auf den anderen tretend, ungelenk sein Anliegen darbrachte, etwas von Statistik und Fallstudie murmelnd.
Was tun?
Er motzte eine nicht repräsentative Anzahl von Aussagen auf und bumste die Tutorin - damals, als man noch bumsen und noch nicht simsen sagte und überhaupt; aber das ist ein anderes Thema.

Von dieser Feldwaldwiesenstudie zehrt er heute noch. Wenn ihm jemand dumm kommt, beruft er sich auf Marzahn oder Neukölln. Was er damals dort fand, nennt er heute mit aller Wucht Realität. Die verwaltet und kennt er, rein gefühlt, ohne selbst in ihrem Kiez zu wohnen. Er zieht sich einfach ein Unterhemd unter die Jeansjacke und die Brille auf und spaziert durch die Gegend: schon hat er sich eine Deutungshoheit angeeignet, Anspruch zwischen klassenübergreifendem Zitat und dem verhornten Anspruch auf Intellektualität.

Wenn er auf dem Fahrrad sitzt und durch Berlin radelt, sein Berlin, das er irgendeinem Angereisten zeigt, der hinter ihm in die Pedale tritt, brüllt er Sätze in den Fahrtwind wie:
„Da im dritten Stock wohnt der und der, der ist der Bassist bei der Gruppe Los Soundsos, der war mit der Cousine eines Schauspielers zusammen, der in der Lychener wohnt und mal eine Nebenrolle im Berliner Tatort hatte, war’s der von von 2015 oder 2014? Nee, warte, 2008! Einunddreißigste Minute, Achtung, jetzt gleich, wenn Boris Aljinovic aus dem Späti kommt!“

So wird dieses Berlin zum Universum, zu einem Geflecht aus wärmenden Weeste-Nochs und Querverbindungen, anekdotenhaften Relativsätzen, in denen sich alles verliert und in Seitenarmen mäandernd relativiert. Gelebtes, ausfransendes, verfranstes Leben. Erinnerungen, so frisch empfunden, dass er sie für Gegenwart halten könnte?
Oder wird aus dem Fluss einfach nur Brackwasser?

Vielen ging es so. Als sie nach Berlin zogen, Anfang der 90er, war’s für sie selbstverständlich, sich unter Gentrifizierung nichts vorstellen zu können. Solche Begrifflichkeiten („Kannste das bitte wiederholen? Hab’ gerade mein Studium abgebrochen“) waren für Menschen gemacht, die Unterhemden nur unter blauen oder weißen Hemden trugen, ihr Studium abschlossen, trotz Wiedervereinigung nach Charlottenburg zogen und die Hälfte ihres Gehalts in mediterrane, linksdrehende Lebensmittel steckten. So stellte man sie sich zumindest vor; an einer Feldstudie wollten auch sie nicht teilnehmen. Immerhin lehnten sie es höflich und wohlerzogen ab.

Inzwischen umrissen diese Begriffe ein zunehmend heftiger empfundenes Feindbild, während sich der Feind immer rarer machte. Er drängte einen, ohne selbst physisch anwesend zu sein, wie mit einer Zentrifugalkraft in die Peripherie. Er besaß Wohnungen, die er nicht bewohnte, sondern vermieten ließ. Etwa auf dem ehemaligen Todesstreifen. Er besaß Wohnungen, die er noch nie betreten hatte.

Wo wohnte dieser Feind eigentlich?

Der Pianist

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Während einer Flugreise, zwischen Auftritt und Auftritt, erfuhr der Pianist, dass sein Land einen Angriffskrieg vom Grenzzaun gerissen hatte.
Luftraumsperrung; die Flugreise verlängerte sich um fast zwei Stunden. Sie mussten über den Nordpol fliegen, was eine ziemlich große weiße Fläche ist mit einer ziemlichen Leere, von oben betrachtet.
Über den Ausbruch des Krieges informierte der Kapitän mit freundlich bestimmter Stimme, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie sicher landen und die jeweiligen Absichten ihrer Reise erreichen würden.

„Und? wie stehen Sie dazu? Stehen Sie auf der richtigen, oder stehen Sie auf der falschen Seite?“, fragte ihn bereits an Bord sein Sitznachbar und leckte dabei, wie um dem Pianisten eine kurze Bedenkzeit zu gewähren, das Aluminiumdeckelchen der Butterportion ab.
Fetthaltige Vorspeise im Bordmenu. Bevorstehende, schwierige Verhandlungen erfordern genügend Durchhaltevermögen, sprich gebunkerte Kalorien.
„Keine Antwort ist übrigens auch eine Antwort. Nur, dass Sie‘s wissen“, ließ er wissen, als sich seine Zunge wieder vom Fett befreit hatte.

Der Pianist antwortete so etwas wie: ab sofort werde er selbstverständlich nur noch Werke in C-Dur aufführen, also insgesamt nur noch auf weißen Tasten konzertieren. Das klänge zwar etwas albern, nach frühem Mozart etwa, und es schränke überdies das Repertoire ungeheuer ein, aber so könne er garantiert nichts falsch machen und dürfe so lange weiterspielen, bis der Krieg zuende und sein Land besiegt sei.
Später wachte er auf: er war nur eingenickt. Er hatte Sitznachbarn und Frage nur geträumt. Der Platz neben ihm, sechs Charly, war leer.



Was er an der Musik am meisten liebte, waren die Pausen. Zeit zum Nachdenken.
Eines seiner Lieblingsstücke war 4‘33 von John Cage; er hatte sich sogar die Mühe gemacht, es für Klavier zu transponieren. Er spielte es häufig als Zugabe.
Als er nach Ankunft aus dem Flugzeug stieg, schaute er scheu um sich. Niemand erkannte ihn. Niemand hielt ihm ein Mikrophon unter die Nase und verlangte, dass er als Subjekt dieses Schwarztastenstaates etwas Unschuldigklugweißes hineinmurmeln würde.
Er verstand: er war einer unter Tausenden, die an diesem Tag den Flughafen nutzten und aneinander vorbeieilten wie die Töne eines Stückes, die kein Komponist sich die Mühe gemacht hatte, ordentlich auf Notenlinien hinter Bass- und Violinschlüsseln zum Luftrocknen aufzuhängen und in einem geordneten, polyphonen Miteiander zum Klingen zu bringen..
Da! dort! lümmelte ein schwarzer Walfisch, gestrandet mitten im Transit
.
Der Pianist setzte sich an den Flügel und begann zu spielen.
Erst spielte er 4‘33, den ersten Satz mit viel Ritardando. Die verlorene Zeit spielte er im dritten Satz in einer Passage mit einem Stretto wieder heraus, sodass das Stück nicht länger und nicht kürzer war als vom Komponisten, im Käfig seiner Zeit, notiert.
Der Pianist schaute um sich: die Menschen eilten weiter. Niemand hörte ihm zu.
Er versenkte sich, so unbeobachtet und ungehört wie er sich glaubte, im dritten Satz von Robert Schumanns Fantasie in C-Dur.

Hierbleiben, dachte er, während er sich immer mehr in den Tönen auflöste, die dem gestrandeten Walfisch unter seinen Fingern entstiegen.
Hierbleiben zwischen Heimat und einer weiteren Fremde.
Hierbleiben, wo es noch Halbtonschritte gab, Nuancen, Phrasierungen, Differenzierungen; wo niemand unmittelbare Stellungnahmen verlangte und innerhalb der nächsten Sekunde darüber entschied, ob man weiterhin in ihren Konzertsälen auf schwarzen Walfischen weiße Saiten anschlagen durfte.



Ground Operations Agent Fernando Pessoa

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Ground Operations Agent Fernando Pessoa, unser Feingeist vom Vorfeld, ist ein Glücksfall für die Artport Crew.
Er ist polyglott und besitzt mehrere Heteronyme. Damit können nach der Rechnung unseres Managements mehrere Mitarbeiter zum Personalkostenpreis eines einzigen eingestellt werden. Einsparungen! Das ist mehr als nur einfaches Multitasking. Heteronyme seien ein Modell für die Zukunft, so das Management.
Fehlzeiten Fernandos fallen andererseits damit schwer ins Gewicht. Es kam auch schon vor, dass Fernando bzw. seine Herteronyme bei der Ladeplanung zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen und sich darüber stritten, was eine Verspätung zufolge hatte.

Ein paar seiner Verkörperungen können einfach gesagt nicht rechnen. Insofern halten sich Synergien und Mehraufwand die Waage.



Lounge Calypso

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Es war nicht ganz einfach, Calypso Zutritt zur Lounge zu verschaffen. Hildegard stellte sich stur. Dabei war sie unserer Meinung nach nicht frei von Eifersucht.
Calypso ist die Tochter eines Mitarbeiters aus der Fracht-Abteilung. Sie wartet hier auf jemanden. Wir wissen nicht, auf wen, nur, dass sie ihn von der Weiterreise abhalten will.