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1. Robert Walser, oder: Der Schmelzpunkt

Ist es je einem Dichter so gut gelungen wie dem Schweizer Robert Walser (1878-1956), noch in seinem Tod eine Figur des eigenen Werkes zu zitieren?

‘Ich habe keine Zeit,‘ sagte Simon still vor sich, ‚ich muß mich beeilen, daß ich die nächste Stadt noch erreiche, ich würde sonst keine Bangigkeit verspüren, noch etwas längere Zeit bei diesem armen Kerl von Toten zu verweilen, der ein Dichter und Schwärmer war. Wie nobel er sich sein Grab ausgesucht hat. Mitten unter herrlichen, grünen, mit Schnee bedeckten Tannen liegt er. Ich will niemanden davon Anzeige erstatten. Die Natur sieht herab auf ihren Toten, die Sterne singen leise ihm zu Häupten, und die Nachtvögel schnarren, das ist die beste Musik für einen, der kein Gehör und kein Gefühl mehr hat.

Dies schrieb, ziemlich romantisch-morbid', der achtundzwanzig Jahre alte Robert Walser in seinem Roman Geschwister Tanner. Fünfzig Jahre später liegt er selbst am ersten Weihnachtsfeiertag, hingestreckt von einem Herzschlag, im Schnee nahe Herisau im Kanton Appenzell. Zwei Bauernjungen finden den Leichnahm; ein namentlich nicht erwähnter Polizeifotograf macht das letzte Bild.
Arnold Odermatt hätte die Spuren des Unglücks nicht besser inszenieren können.

In einer Aneignung dieses Bildes ist eine Arbeit entstanden, die innerhalb einer Kollektivausstellung im Oktober 2024 in der Basler Galerie Leupin gezeigt wurde. Dabei handelt es sich um ein Tetraptychon, das das letztes Bild des Dichters aufgreift, aus dem nüchtern-dokumentarischen Schwarzweiß befreit und spielerisch - metaphorisch - fortführt.